Vom sternenklaren Nachthimmel leuchtete der helle Mond, als wir acht Schneeschuhund Skitourengeher uns morgens um fünf am Beutwang trafen. Werner und Gebhard stiegen in Erkenbrechtsweiler zu. In der diesjährigen Karwoche hatte Manfred die traumhafte Haute Route de Graubünden geplant. Von Madulein bis nach Teufi sollten wir über sechs Tage alle Arten der Hochgebirgsromantik erleben: Von der Traumfernsicht auf dem Piz Kesch bis zum Schneesturm jenseits des Vergnügens im Val Funtauna. Nach einer relaxten Kaffeevisite in Nassereith standen wir sechs Stunden nach unserem Start am Bahnhof Madulein, einem kleinen verschlafenen Nest in Graubünden.
Ski und Schneeschuh angeschnallt: der erste Aufstieg
Der Tag war noch jung, als wir uns gut gelaunt an den Anstieg zur Chamanna da Grialetsch (Grialetsch Hütte) aufmachten. 800 Höhenmeter auf fünf Kilometer Wegstrecke verteilt, hörten sich fast wie ein kleiner SonntagnachmittagSpaziergang an. Auf 1700 Metern, so hoch lag schon Madulein, lag der Wald noch im Winterschlaf. Durch den lichten Hain stiegen wir auf. Entlang der Ova d'Escha ging es Meter um Meter nach oben. Keine 300 Höhenmeter später war der Wald der in den Bann ziehenden Einöde des Hochgebirges gewichen. In den erwärmenden Strahlen der hochstehenden Sonne glitzerte das endlos erscheinende Schneefeld. In der Ferne lag irgendwo die Porta d'Escha. Dort trafen sich der stahlblaue Himmel und die eisigen weißen Schneemassen. Bei jedem Schritt knirschte der Schnee unter unseren Schneeschuhen. Drei Stunden nach unserem Aufbruch in Madulein standen wir vor unserem ersten Nachtlager am Fuße des Aguoglia d'Escha Massivs, der Chamanna d'Escha, eine gemütliche, frisch renovierte Hütte, die ihren urigen Stil behalten hat. Im großen Lager durften wir, zehn gut gelaunte Männer, eine entspannte Nacht verbringen.
Piz Kesch – im Bann eines abenteuerlichen Berges
Minus 9°C zeigte das Thermometer, als der Ersterwachte in früher Morgenstunde aus der Hütte blinzelte. Der Wettergott hatte zum schönen Start am Vormittag noch eine Schippe Fernsicht draufgelegt. Um acht Uhr begann mit dem ersten Schneeschuhschritt der Aufstieg auf den Piz Kesch. Fast direkt zogen wir zur Scharte Porta d'Escha. Die Schneedecke war noch gefroren und brach erst, als das ganze Körpergewicht auf den Schneeschuh drückte. Schon im Steilgelände der Scharte war es eine kluge Entscheidung, Steigeisen anzuschnallen. Die letzten 40 Höhenmeter waren dann mit den scharfen Zähnen am Fuß eine Leichtigkeit. Den letzten Kilometer zum Basislager am Fuße des Piz Kesch, gelegen auf ca. 3200 Metern, ging es über den jungfräulich daliegenden Gletscher Vadret da Porchabella. Wir waren die Ersten, die Spuren im Schnee hinterließen. Ab dem Basislager lagen noch ca. 200 Höhenmeter Aufstieg vor uns, auf den höchsten Berg in den AlbulaAlpen. Dazu war er mit einer Schartenhöhe von mehr als 1500 Metern noch ein »Ultra Prominent Peak«. Wieder mit den Steigeisen an den Füßen und dem Pickel in der Hand ging es ran an den Gipfel. Man sollte trittsicher sein, denn die Steilheit im Aufstieg
ging bis auf 40 ° hoch. Die zwei, drei leichten Kletterstellen meisterten wir »Free Solo«. Manche von absteigenden Gruppen losgetretene Schneeflocke landete in unserem Kragen. Das tat uns nichts ab, denn die Sonne stand hoch am stahlblauen Himmel und wärmte. Über eine kleine Ebene erreichten wir nach etwa eineinhalb Stunden den 3417 Meter hohen Gipfel des Piz Kesch. Die Weitsicht war atemberaubend. Sie reichte an diesem Tag von den Ötztaler Alpen, dem Ortler und Adamello über die Berninagruppe bis zu den Walliser und Berner Viertausendern. Drei Stunden später standen wir an der KeschHütte. Bereit für den delikaten Graubündner Nusskuchen.
Ein Schneesturm im Anmarsch oder wie man auf die Grialetschhütte wandeln kann
Mit dem kommenden Tag hatte sich die Wetterlage komplett verändert. Die fast windstille Westströmung hatte sich in einen südlichen Alpenföhn verwandelt. Wolkenschwaden waberten über die Berggipfel und fielen wie riesige Wasserfälle ins Tal. Einen Versuch zu starten, den kleinen Hausberg Piz Porchabella zu besteigen, genehmigte uns der Wetterbericht noch. Mäßig sti eg es durch mystische Schneeschluchten zum Fuorcla Viluoch an. Vom Sattel waren es noch 150 Höhenmeter. Auf den letzten 75 Höhenmetern durften wieder unsere Steigeisen mithelfen. Die Sicht auf dem 3079 Meter hohen Hügel war heute eher mäßig, unser zügiger Abstieg war sehr empfehlenswert.
Durch höher gelegene Ebenen durchstapften wir die wunderschöne Gebirgswelt, auf dem Weg zu unserem einzigen »No name peak« dieser Durchquerung. Die Sonne drückte immer mal wieder durch die wabernden Wolkenmassen. Dies erlaubte uns den kleinen Abstecher. 3040 Meter hoch standen wir auf diesem Hügel. Hier erlaubte uns der Föhn eine wundervolle Sicht ins Tal, wo wir unsere KeschHütte erblickten. Die Lage verschlechterte sich von Stunde zu Stunde. Tags darauf war ein Übergang zur Chamanna da Grialetsch (GrialetschHütte) vorgesehen. Während wir das leckere Birchermüsli mampften und den warmen Kaffee schlürften, fegte vor der Hütte der Föhnsturm. Schneeflocken flogen waagrecht am Fenster vorbei. Die Sicht beschränkte sich auf eine Armlänge. Trotzdem klickten wir uns die Ski unter die Stiefel oder die Schneeschuhe an die Treter. Als gemeinsame Horde Schneesturmtauglicher stapften wir los. Aus dem Val dal Tschiwel bogen wir ins Val Funtauna. So war der Plan. Ohne GPS ging schon nach den ersten Metern gar nichts mehr. Die Sicht ging im eisigen Schneesturm gegen null. Der Sturm riss an unseren Klamotten, Konturen verschwanden. Alles war weiß. Nach drei Stunden brachen wir ab. Rückzug zur KeschHütte. Als diese aus dem Schneesturm auftauchte, hatten wir im Schnitt 1,4 Kilometer pro Stunde zurückgelegt.
Tags darauf hatte sich die Wetterlage ein wenig entschärft. Frohen Mutes ging es nun ran an Grialetsch 2.0. Wieder durch beide Täler. Wieder stapften oder glitten wir durch die Täler, um den Anstieg zum Scalettapass zu erreichen. Damit wir Schneesturmerprobte nicht der Langeweile verfielen, wurden wir auf dem Weg zur Passhöhe erneut vom Sturm erfasst. Auf der 2605 Meter hohen Passhöhe spürten wir wieder den »White out«. Nun stand man z. B. schlagartig an einer Wächte, die man zwei Sekunden davor noch gar nicht erahnt hätte. Als es nach der Passhöhe wieder »zwei Meter« ins Tal ging, blies uns der Sturm langsam die Flocken aus dem Gesicht. Die Sicht besserte sich. Durchs Fuorcla da Grialetsch hatten wir dann nochmals 300 Meter Anstieg vor uns, um uns im Schatten des Chilbiritzenspitze und des Radüner Rothorns der wunderschön gelegenen GrialetschHütte zu nähern. Dieser Wetterwechsel auf der KeschHütte ließ uns diese Woche fast an jeder Wetterlage schnuppern.
Eine ganz geniale Heimreise einer ultracoolen Woche
So ging es auch am Abreisetag nicht durch die Rothorn Furgga, sondern ganz banal das gleiche Tal wieder hinab, durch das wir am Vortag aufgestiegen waren. Manne, Roland, Wolfgang und Jürgen stapften mit ihren Tourenski noch durch den trüben, nebligen Morgen auf den Haushügel, den Chilbiritzenspitz, hoch, um Schwung zu holen für die letzten doch sehr ebenen Meter durchs Dischmatal. Die Lawinenwarnung stieg auf 3. An den drei geduckten Häusern des Dürrbodens waren wir wieder in der Zivilisation des Dischmatals angekommen. Keine halbe Stunde nach uns Schneeschuhgehern erreichten die Skifahrer die Siedlung Teufi. Hier wurde nun endgültig abgeschnallt.
Der ÖPNV tat nun seinen Dienst: Per Bus und Bahn ging es auf die Minute pünktlich über zwei Stunden zurück nach Madulein. Im »Roadhouse« am Grenztunnel Füssen gönnte sich diese coole Truppe noch ein Abschlussessen. Uns allen hatte es eine große Freude bereitet, in dieser Gruppe die fantastische Haute Route de Graubünden zu gehen.
Text: Sascha Wloch
Fotos: Manfred Hoss und Sascha Wloch